Gedanken zu  ‚Der Erde Raum‘                                                                    

 

Ein Opus Magnum, rahmenlos, frei hängend.

 

Tritt man vor dieses Bild, so erfüllt sich sofort Klee’s Hinweis, dass dem Auge des Betrachters im Bilde Wege angelegt seien.

 

Der Europäer, gewohnt und geübt in lateinischer Schrift, wird sofort von oben nach unten und von links nach rechts lesen wollen. Der Einstieg fällt sehr leicht, denn die enggestaffelten Horizontlinien im oberen rechten Bildteil sind nach links geöffnet, sie laden den Blick ein, nehmen ihn auf und führen zum Rand hin – aber hier erfolgt schon ein erster  Lesebruch. Große, betont breite Quastenstreifen führen abwärts, den Rahmen entlang, parallel dazu. So entsteht auf der rechten Bildseite eine kräftige Stabilisierung. Vertikale Pfeiler, farblich homogen und formal kaum untergliedert, dazu Farbplatten und wenige Bruchkanten in warmer, dunkel samtiger Tonigkeit versinken rechts in einem angedeuteten Strudel aus Helligkeit mit spärlichem Rot in den zarten Kreisbögen.

 

Diese warme Passage wird festgehalten und stabilisiert durch die wärmste und dunkelste  Bildfläche in einem horizontalen Element.  Folgt der Blick eben diesem Element, so geht die Richtung nach links, die Wärme wandelt sich zu einem kristallinen Eis-Türkis, aus dem -  sich aufschraubend wie eine linksgerichtete Wendeltreppe – eine Prismenfiguration auftaucht, sich erhebt und in Stufen aus dem Bild nach links hin hinaus zu deuten scheint; jedoch wird diese Bewegung farblich und formal in eine zarte Senkrechte aufgehoben, ein leises Echo zu den massiven Pfeilern rechts. Die filigran wirkende Stützenfigur bricht auf etwa zweidrittel der Höhe ab, wird umgebogen, fast geknickt, von einem dominierenden Diagonalkeil in leuchtend kaltem Blau. Ein Fingerzeig gleichsam, der in die imaginäre Tiefe der Bildkomposition verweist. Diese Richtungsgebung wirkt deshalb so stark, so unwidersprechbar, weil der Farbkontrast des Blau auf der Farbfolie einer unglaublich reichen, lichten Nuancierung der Bildfläche extrem kalt, fast metallisch aufleuchtet. In der Umgebung der transparenten und undefinierten hellen Nebeltönen wirkt er aber auch ganz nah, ganz präsent.

 

Die große Bildfläche beherrscht ein Farbrausch aus schillerndem Weiß, Gelb, Rosa, blass und klar zugleich; einer Morgenstimmung von Grieg vergleichbar.

 

Ein Verweis auf die norwegische Landschaft muss zwingend erfolgen: ein Fjord, vom Fjäll aus gesehen an einem dunstigen Morgen  -  so viel mag ich erkennen.

 

In Malerei übersetzt ist diese Vorstellung eine Metamorphose von steinerner Materialität in Diaphanie und Wärme.

 

Das Besondere ist noch in einem weiteren Merkmal dieses Bildes versteckt. Es muss frei hängen, durchscheinend sein, um die Botschaft / den Titel zu lesen: Erde.

 

Dr. K. Keßler